Ingenieur, Unternehmer, Visionär

Der europäische IC-Pionier Pasquale Pistorio ist tot

6. Oktober 2025, 6:12 Uhr | Heinz Arnold
Pasquale Pistorio
© STMicroelectronics

Pasquale Pistorio prägte wie kaum ein anderer die europäische Chip-Branche und schmiedete aus einem Sanierungsfall einen der wenigen global führenden europäischen Halbleiterhersteller.

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Seine Karriere begann bescheiden: Er hatte bei einem Distributor in Mailand angeheuert, verkaufte Transistoren des amerikanischen Herstellers Motorola – und besuchte Kunden mit dem Fahrrad, weil er keinen Führerschein besaß.

Für einen solchen Job waren zu einer Zeit, in der kaum jemand wusste, was ein Transistor ist, ein gewisses Verkaufstalent, eine gute Portion Optimismus sowie Ausdauer und Beharrlichkeit erforderlich – das alles war Pasquale Pistorio offenbar in die Wiege gelegt. Zudem zeichnet ihn seine technische Begabung aus: 1963 hatte er das Studium der Elektrotechnik am Politecnico di Torino abgeschlossen.

Das war ein entscheidender Schritt auf seinem Weg, der ihm ganz und gar nicht in die Wiege gelegt war und auf dem er zu einem – wenn nicht dem – Star der europäischen Halbleiterindustrie aufsteigen sollte.  

Allerdings fühlte er sich damals noch nicht zur Praxis, sondern zur Theorie hingezogen: Je abstrakter ein Thema war, desto faszinierte es ihn: Sein Ziel war es, Elektronikentwickler zu werden.

Bescheidener Start in Sizilien

Geboren wurde er 1936 in Agira auf Sizilien. Damals war Sizilien wirtschaftlich schwach, eine der ärmsten europäischen Regionen. Aber unterstützt von seiner Familie arbeitete sich Pasquale Pistorio beharrlich nach oben, bis er schließlich am Politecnico di Torino studieren konnte.

Damals müssen Welten zwischen der Industriestadt in Norditalien und dem aus norditalienischer Sicht zurückgebliebenen Nest namens Agira auf Sizilien gelegen haben. Aber das stachelte seinen starken Ehrgeiz erst recht an, sich im Norden und in einer Branche durchzusetzen, deren riesiges Potenzial damals nur wenige erkannten.

Die Liebe zu seiner Heimat Sizilien aber begleitete ihn zeitlebens, genauso wie Sizilien sein starkes Engagement für soziale Belange geprägt hat.

Es muss ihm ganz besonders großes Vergnügen bereitet haben, als Chef von STMicroelectronics in seiner Heimat Sizilien bei Catania eine 200-mm-Halbleiter-Fab für die Fertigung von nichtflüchtigen Speicher-ICs bauen zu können, die 1997 in Anwesenheit des damaligen Premierministers Romano Prodi feierlich eröffnet wurde – und damit dazu beizutragen, die weltweit modernste High-Tech-Industrie in den immer noch strukturschwachen Süden Italiens zu bringen.

ST setzte auf ein Material, das keiner kannte

Schon 1996 begann die Zusammenarbeit zwischen STMicroelectronics und der University of Catania auf dem Gebiet des damals vollkommen unbekannten SiC. 2006 wurden dort die ersten SiC-Schottky-Dioden auf 3-Zoll- statt 2-Zoll-Wafern hergestellt, ein Durchbruch.

Noch heute ist STMicroelectronics ein führender Hersteller von SiC-Komponenten und verkündete im Mai 2024 in Catania einen SiC-Campus zu bauen, der erste voll integrierte SiC-Campus der Welt, einschließlich einer Fab für die Fertigung von SiC-Leistungshalbleitern auf 200-mm-Wafern. Nur ein Beispiel für den Weitblick Pistorios. »Etna Valley« wird die Region heute genannt.

Die amerikanischen Jahre bei Motorola

Doch zurück in das Italien Anfang der 60er Jahre. Pasquale Pistorio verkaufte Motorola-Transistoren im Piemont. Schon bald fielen das außergewöhnliche Talent und der besondere Charme des italienischen Verkäufers auf und die Kunde drang bis ins Hauptquartier von Motorola vor. Kurzerhand warb der Konzern ihn ab und holte ihn in die USA, wo er verschiedenen Führungspositionen übernahm und zeigte, dass er für noch Höheres geschaffen war. 1977 wurde er Direktor für internationales Marketing, im November 1978 General Manager der International Semiconductor Division mit Verantwortung für Design, Produktion und Marketing außerhalb der USA. Er war der erste Nichtamerikaner auf der Vice-President-Ebene von Motorola.

Zwar zeigte er sich fasziniert von den amerikanischen Management-Methoden und wusste sie offenbar hervorragend anzuwenden – aber sein Herz hing an Europa und besonders an seiner Heimat Sizilien. Immer dringender fragte er sich, wie er dazu beitragen könnte, den großen Vorsprung der USA gegen über Europa zu verringern.

SGS – Chance oder Ruin?

Die Chance bot sich im Jahre 1980, als er zum Chef der defizitären SGS (Società Generale Semiconduttori) berufen wurde, die auf einen Umsatz von gerade einmal 100 Mio. Dollar kam. Damals hätten wohl wenige Lust gehabt, Chef eines maroden Ladens wie SGS zu werden, und nur wenige hätten darauf gewettet, dass Pasquale Pistorio daraus eine Erfolgsstory machen könnte – mit Ausnahme derer, die den Ingenieur und charismatischen Manager-Diplomaten kannten und wussten, wie beharrlich er langfristige Visionen umzusetzen wusste.

Zunächst kehrte er mit dem berühmten eisernen Besen, schaffte ineffiziente Strukturen ab – aber er baute auch auf: So modernisierte er das noch aus ATES-Zeiten bestehende Werk in Catania, nahm neue Märkte ins Visier und entwickelte SGS in Richtung Broadliner.

Brillante Diplomatie: Die Fusion zu SGS-Thomson

1987 kam seine große Stunde: Pistorio setzte die Fusion mit Thomson Semiconductor in Gang und schmiedete ein neues Unternehmen: SGS-Thomson. Seit 1998, als Thomson seine Anteile verkaufte, trägt es den Namen STMicroelectronics.

CEO der neuen SGS-Thomson wurde selbstverständlich der Initiator und charismatische Macher Pasquale Pistorio. Wieder übernahm er damit ein Himmelfahrtskommando, denn ob der Zusammenschluss zweier angeschlagener Halbleiterhersteller mit unterschiedlichen Firmenkulturen gelingen könnte, war damals mehr als fraglich – zumal Fusionen in der Chip-Branche selbst unter weit besseren Voraussetzungen schon damals zumeist enttäuschend endeten.   

Der Ausgang dieser Geschichte ist bekannt: Der unverwüstliche Optimismus des überzeugten Europäers Pasquale Pistorio siegte wieder einmal und er gilt heute als der Architekt einer einzigartigen Erfolgsgeschichte.

Der Manager und Diplomat führte die italienischen und französischen Unternehmensteile nicht nur zu einer Einheit zusammen, er brachte die neue Einheit auf Wachstumskurs und machte das Unternehmen technologisch führend.

Nicht, indem er die Marktführer imitierte, sondern indem er auf die eigenen Stärken setzte, sie beharrlich ausbaute. Ziel des »Ingenieurs«, wie er häufig genannt wurde, war es, im Technologiesektor gegenüber den USA aufzuholen und Spezialitäten zu entwickeln, die auf Europa passten. Beispiele sind die erwähnte SiC-Technologie und der SF-SOI-Prozess (Fully Depleted Silicon-on-Insulator), der in Zusammenarbeit mit CEA-Leti und Soitec entstand. Hier zeigt sich ein weiterer entscheidender Aspekt seiner Strategie: Partnerschaften auf allen Ebenen einzugehen, hielt er für essentiell. F&E war seiner Überzeugung nach nur erfolgversprechend, wenn sie auf EU-Ebene koordiniert wurde, weshalb er in vielen europäischen Initiativen wie MEDEA auf oberster Ebene mitarbeitete.

Globaler Player mit europäischer Entwicklungskompetenz

Konsequent und weitsichtig setzte der »Ingenieur« auf F&E, in die er bis zu 20 Prozent der Jahresbudgets steckte. Und er machte aus ST ein globales Unternehmen mit Fabs rund um die Welt – allerdings mit Fokus auf europäischer Entwicklungskompetenz: in Catania genauso wie in Crolles, Rousset und Agrate. Und nicht zu vergessen: Es ging ihm immer um die vollständige Wertschöpfungskette. Deshalb legte er auch großen Wert darauf, auch die Back-End-Aktivitäten zumindest zum Teil in Europa voranzutreiben, etwa auf Malta.

Ineffizienzen raus – Innovationen rein!

Wie schon bei SGS, schloss er auch bei SGS-Thomson ineffektive Unternehmensteile und Fabs, riss aber nicht nur ein, sondern ging Risiken ein und begann mit dem Bau einer neuen, modernen Fab in Crolles bei Grenoble. Ein Standort, der sich als außerordentlich erfolgreich erweisen sollte, und an dem viele neue Technologien und Prozesse entwickelt wurden, die zur Grundlage für STMicroelectronics Aufstieg werden sollten – und die es bis heute sind. So gründeten im Jahr 2002 Motorola und TSMC mit ST und Philips die Crolles-2-Allianz mit einer neuen 12-Zoll-Fab für die Entwicklung von 90- bis hinunter zu 32-nm-Prozessen.

Der Gang an die Börse

1994 brachte Pistorio STMicroelectronics in Paris und New York an die Börse, in diesem Jahr 1994 konnte das einen Umsatz von 2,6 Mrd. Dollar erzielen. Schwerpunkte lagen in den Folgejahren auf Leistungselektronik (Power, Smart Power), Mixed Signal, Analog, Sensoren und SoCs für den Einsatz in Wachstumsmärkten wie Mobilfunk, Automotive und Industrie.

Aber es gab auch große Herausforderungen. Kein Halbleiterunternehmen der Welt kann sich den Zyklen entziehen, besonders stark wirken sie sich auf die Speicherprodukte aus, also auf die nichtflüchtigen Speicher, so dass ST immer wieder mit stark schwankenden Margen und Preisdruck aus Asien zu kämpfen hatte. Aber das Unternehmen wuchs dank der Diversifizierung beständig.

Unter seiner Führung stieg STMicroectronics zum Marktführer bei Smartcards und EEPROMs auf, das Unternehmen war Pionier im Sektor der MEMS-Sensoren, die heute in Smartphones und Autos allgegenwärtig sind, und entwickelte sich zu einem wichtigen Zulieferer für Automobilhersteller.

Als sich Pasquale Pistorio 2005 aus der Position des CEO zurückzog und an Nachfolger Carlo Bozotti übergab, war STMicroelectronics profitabel, erzielte einen Umsatz von 8,9 Mrd. Dollar und war technologisch gut aufgestellt. Damals lag das Unternehmen hinter Intel, Samsung, Texas Instruments und Toshiba an fünfter Stelle unter den Top Ten, noch vor Infineon, Renesas, NEC, NXP und Freescale.

Soziales Engagement auch im »Ruhestand«

Nach seinem Rückzug aus dem operativen Geschäft verabschiedete sich Pistorio nicht in den Ruhestand – eine solche Lebensform wäre ihm fremd gewesen. Unter anderem engagierte er sich weiterhin sozial: Mit der 2005 gegründeten Fondazione Pistorio förderte er Projekte zur Ausbildung von Kindern in benachteiligten Regionen.

Auch in der Elektronikindustrie brachte er sich weiterhin auf höchster Ebene ein, etwa in seiner Rolle als »Elder Statesman« im Rahmen der EU-Initiativen zur Mikroelektronik.

Bis heute, zwanzig Jahre nach seinem Rückzug vom Chefposten von STMicroelectronics gilt Pasquale Pistorio als einer der einflussreichsten Manager in Europa überhaupt, dessen größtes Vermächtnis darin besteht, mit STMicroelectronics eines der drei noch heute erfolgreichen großen europäischen Halbleiterunternehmen geschmiedet zu haben.

Am 26. September ist Pasquale Pistorio in Mailand im Alter von 89 Jahren gestorben.


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